1.
Kadima schaute von den Bauplänen auf, als ihr Bruder die große, aus Baumstämmen gefügte Halle betrat. Wie immer trug sie ein wollendes Wams über dem weiten Hemd und ihre Hosenbeine steckten in schweren Stiefeln.
Rafael hängte seinen schneebedeckten Umhang an einen Harken links der Eingangstüre, rückte den Schwertgurt zurecht und stellte sich dann vor das Kaminfeuer.
„Und wie lief es heute Vormittag?“, fragte die rothaarige Frau neugierig.
„Ich habe vier Bäume gefällt, entastet und mit dem Gespann zur Siedlung gezogen. Wir brauchen hier sowieso viel mehr Holzfäller. Warum schickt die Dsar oder Joscha nicht mehr aus Vodgorod? Die lassen uns hier ziemlich hängen…“, maulte Rafael, während er sich ein Stück Dörrfleisch aus einer Schüssel vom Tisch fischte. „Gibt es Neuigkeiten aus der alten Heimat?“
Kadima grinste: „Natürlich nicht. Seit Joscha angefangen hat, seinen Stammsitz Wolfenblick auszubauen, findet er kaum noch Zeit für anderes…“, begann die junge Frau die Aufzählung. „Creo, Nalim und Alexej sind offenbar für längere Zeit im Südlichen Siegel unterwegs. Ich hörte was von einer Grauen Stadt… und geben dort dem Untoten Fleisch ordentlich eins auf die Mitze. Und die anderen….“, sie zuckte mit den Schultern… „Zerstreut in alle Winde? Ich weiß nicht.“
„Na toll. Und wir sitzen hier in diesem Kaff fest… in diesem von allen Dreyn verlassenen Axtfelser Grenzwäldern… und langweilen uns zu Tode... Jedenfalls hatte ich mir das irgendwie glanzvoller vorstellt, als Joscha davon sprach, dass wir das Lehen verwalten dürfen.“
„Achwas… die Siedlung macht doch ausgesprochen gute Fortschritte. Und auch die Dsar wird sicher hochzufrieden sein, wenn sie erfährt, was wir hier geleistet haben. Außerdem ist sie sehr großzügig…!“, beruhigte Kadima ihren Bruder lächelnd.
„Aber mal was anders… schau mal hier…“, und tippte mit dem Finger auf den Lageplan. „Da wo der Bach den Knick macht ist an der Außenseite der Palisade die Erde abgerutscht… das berichtete vorhin einer der Arbeiter.“ „Schlecht verdichtet?“, fragte Rafeal kauend zurück. „Denke ich mal“, mutmaßte Kadima. „Bitte sieh es dir mal an. Ich möchte nicht, dass wenn im Frühjahr der Schnee wegtaut und der Regen einsetzt, der Fuß der mühselig errichteten Holz-Erde-Mauer fre….“
Mit einem lauten Krachen flog die schwere Tür auf und schlug heftigst an die Wand. Noch in derselben Sekunde hatten die Geschwister die Waffen gezogen, sodass der Eindringling sich zwei Schwertspitzen gegenüber sah.
„Myne Herrn, Heeerrn, Heeeerrrn!“, rief der schneebedeckte Mann außer sich und nahm kaum von den auf ihn gerichteten Waffen Notiz, so aufgeregt war er. „Was ist los? Werden wir angegriffen?“, fragte Rafael sofort. „Nejt, nejt… myne Herrrrrn, sie ist wech. Weeech!“, schluchzte der Mann.
Kadima verdrehte die Augen und führte den völlig aufgelösten Mann zu einem Stuhl. „Jetzt beruhige dich erstmal. Was ist denn nun genau los? Und wer ist weg?“, fragte sie eindringlich.
„Min Tochterken, die kleene Swjeta. Iss doch erst sieben Jahr alt…! War wohl mit de andere Kindas draußen am Waldrand spielen. Heute vormittach. Jetzt suchme se schon seit Stunden. Sie iss wech!!!“
Rafeal legte dem Mann die Hand auf die Schulter: „Towaritsch, sag mal… bist du nicht der Gehilfe vom Schmied? A…ndrej?“, fragte er mit beruhigendem Tonfall. „Nee, Anatolij heiss ich, myn Herr.“ „Gut, hör zu, Anatolij… wir werden deine kleine Tochter schon finden. Jetzt lauf und trommele die anderen Kinder zusammen, damit ich sie befragen kann, im Viertel einer Stunde treffen wir uns wieder hier draußen vor der Tür. Jetzt lauf..dawai, dawai! “ „Dâ, myn Herr, dâ sofort!“
Kaum hatte der Mann eilig den Raum verlassen, wandte sich Kadima kopfschüttelnd an ihren Bruder: „Na du bist ja optimistisch. Diese Wälder sind völlig verseucht mit… allerlei Kreaturen! Und du findest auch gleich Stecknadeln im Heuhaufen und vodgodische Tannenzapfen im Tiefschnee“, meinte die rothaarige Frau mit zynischem Unterton.
„Schwesterherz, diese Sache kann der ohnehin schon angeschlagenen Moral der Bärheimer vielleicht den Rest geben!“, gab Rafael zu bedenken. „Und das, was wir hier überhaupt nicht brauchen können, wären Dörfler, die Heim nach Vodgorod wollen“, warnte er, während er seinen Lederpanzer von einem Gestell holte und anlegte. Im herausgehen warf er sich noch eine Pelzjacke über. „Warte nicht mit dem Essen auf mich!“
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