Regen. Seit dem Tag, als sie mit dem Holz für Nordgard aus Finsterwalde aufgebrochen waren, waren sie nass bis auf die Knochen. Die schlammigen Straßen, eine Tortur für Mensch und Tier. Doch abgesehen von den Flüchen über feststeckende Wagenräder oder Wegelagerer, die dumm genug waren, einen Überfall bei Nacht zu versuchen, klagte niemand.
So auch der Krieger, der sich Silar nannte, und der an der Flanke des vorderen Wagens, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, den anderen folgte – was allerdings nicht seiner Disziplin allein, sondern viel mehr seinen eigenen Gedanken geschuldet schien. Öfter als die anderen hob er den Kopf und ließ den Blick über die Ebene der Winde streifen, als gäbe es dort Antworten auf die vielen Fragen, die ihn seit Tagen begleiteten – doch das Land schwieg. Wie sollte es auch anders sein, ohne einen Gott, der es führte?
Es war der vierte oder fünfte Tag, als sie die Kreuzung nach Codex Lux erreichten, als einige Männer in schwarzen Kutten mit dem Abzeichen der Bruderschaft des Lichts darauf dem Konvoi den Weg versperrten. Junge Burschen, allesamt, keiner von ihnen mochte über fünfundzwanzig Sommer zählen. Und doch, oder gerade wegen dieser kindlichen Dummheit, blockierten sie dem Konvoi eines imperialen Reichritters, einer Lehnsnehmerin von Axtfels, der im Auftrag des Grafen höchstpersönlich unterwegs war, den Weg auf einer öffentlichen Straße. Silar grinste unter seiner Kapuze und schüttelte den Kopf, während einer der Holzfäller seine Mütze abnahm und den Lichtbrüdern ihr Anliegen erklärte. Dass weder ihr Offizier noch ein anderer der Soldaten vorsprach, war Asunders Wunsch gewesen – und so standen sie schweigsam, die Schilde erhoben und den Griff um die schlanken Speere, oder die Repetierarmbrüste, fest, und beobachteten mit abgeklärtem Kalkül.
„Das Licht zum Gruße! Wohin wollt ihr?“
„Nordgard. Wir liefern das Holz für den ehrenwerten Grafen und Ordensmeister der Sturmfalken, Kaldor Kayanee. Gibt es Schwierigkeiten auf dieser Straße, oder warum versperrt ihr uns den Weg?“
Die Lichtbrüder wechselten bedeutsame Blicke.
„Auf Geheiß von Maghnus von Cadyern, hochwohlgeborener Ordensmeisters der Bruderschaft des Lichts, Reichsritter des ankoragahnischen Imperiums und Ehrenleibgarde in memoriam Rawiel zu Rothenburg ...“
Nicht nur Silar seufzte.
„...werden wir Euch in den nächsten Tagen Geleitschutz geben, bis ihr Nordgard fast erreicht habt!
Die kleineren Zwistigkeiten müssen da für den höheren Zweck zurückgestellt werden*!“
Der Holzfäller, Heinke hatte ihn seine Mutter genannt, wandte den Blick, fast ein wenig hilflos, über die Schulter zu den Soldaten – fünfzehn an der Zahl, allesamt schwer gepanzert und bewaffnet. Erfahrene Krieger, die ihre Feuerprobe gegen das Chaos schon vor Jahren bestanden hatten – und dann zurück zu den Lichtbrüdern.
„Nun, werte Herren, ich denke nicht, dass es nötig-“ Eine schwere, gepanzerte Hand auf der Schulter unterbrach ihn. Der Offizier der finsterwälder Soldaten war, erstaunlich lautlos für die viele Rüstung, die er trug, an seine Seite getreten und flüsterte ihm einige Worte zu, die dunklen Augen unter dem Helm prüfend, und nicht ohne ein herausforderderndes Lächeln darin, auf die jungen Männer aus Waldwacht gerichtet. Dann trat er an seinen Platz zurück, in die gleiche, unnahbare Haltung wie zuvor.
Nervös befingerte Heinke den Filz in seiner Hand.
„Ich, äh, … ja. Ich denke auch, Ihr solltet uns … begleiten. Wir brauchen sicherlich Eure tatkräftige Unterstützung. Die Herren hier, meine ich.“ Er wedelte mit der Mütze in Richtung des Konvois hinter sich.
Auch, wenn die Kapuze Silars Augen verbarg, war sein wenig freundliches Lächeln jedoch nicht zu übersehen.
Ohne ein weiteres Wort abzuwarten hob der Offizier seinen Speer, schlug zwei Mal auf sein Schild, und der Tross setzte sich so abrupt wieder in Bewegung, dass selbst Heinke zur Seite springen musste. „Werte Herren, ihr … könnt dann folgen. Oder Euch anschließen … Ihr solltet Euch jedenfalls … beeilen, meine ich... respektvoll.“ Dann eilte er zurück an seinen Platz.
Es waren zwei weitere, lange Tage bis Nordgard und um so längere, kalte Herbstnächte. Nur die Holzfäller sprachen mit den Lichtbrüdern, die Soldaten hielten sich auf Abstand und blieben unter sich. Allein Silar trat abends am Feuer zu ihnen, ein Bündel mit Brot, Käse und Trockenfleisch und einen Weinschlauch in der Hand.
„Danke. Willst du dich nicht setzen?“ Er schüttelte den Kopf, hielt jedoch inne und zuckte mit den Schultern, bevor er sich, sein Gesicht im Schatten der Kapuze, zu ihnen gesellte. „Zieht ihr von der Flamme eigentlich eure Rüstungen nie aus?“
Wieder schüttelte Silar den Kopf. „Nicht, wenn wir durch gefährliche Zeiten reisen.“ Seine Stimme war rau, fast heiser. „Reist ihr immer leichtfertig?“
Einer der Brüder schnaubte verächtlich. „Meine Brüder erzählten schon von eurer Arroganz...“
„... eine Arroganz, die euch heute Abend speist, obwohl sie es nicht müsste.“ Silar bleckte die Zähne und drehte, wie in alter Gewohnheit, den Ring, den er über dem Handschuh an seiner Linken trug. Ein Stück geschwungenen Messings in Form einer Phönixfeder, in diesen Landen wohl viel zu wertvoll für einen einfachen Soldaten.
„... ihr solltet Essen, dann solltet ihr schlafen – oder wachen – ganz, wie es euch beliebt. Und morgen früh solltet ihr laufen. Wir brechen vor Anbruch der Dämmerung auf.“ Geschmeidig erhob er sich von seinem Platz, verbeugte sich noch einmal spöttisch, um dann in der Dunkelheit zu verschwinden – ein leises Lied summend. Zumindest bedeuteten diese Kreaturen keine Gefahr. Trotzdem würde er heute Nacht, einmal mehr, nicht schlafen.
Der Rest der Reise verlief ohne Zwischenfälle. Kurz vor den Toren Nordgards verabschiedeten sich die Brüder und zogen ihres Wegs zurück nach Waldwacht, und Silar hoffte, dass sie es bis dorthin zurück schaffen würden. Alles andere würde die Lage noch komplizierter machen, als sie eh schon war. Während die Wachen der Stadt die Wagen kontrollierten und mit Heinke über Einfuhrpapiere und ähnliche Dinge sprachen, tauschte Silar seine schwere Rüstung gegen leichtes Leder und löste sich unauffällig aus dem Trupp der wartenden Soldaten, die ihr Lager unmittelbar auf dem Anger vor dem Tor aufgeschlagen hatten, was bei der Stadtwache für wenig Begeisterung sorgte. Gut so, denn so waren die Augen der wachsamen Falken dort, und nicht bei den Abenteurern und Händlern, unter die Silar sich jetzt mischte, um durch das Tor in die Stadt zu gelangen.
Auch, wenn er Städte diese Größe aus seiner Heimat kannte, verschlug Nordgard ihm für einen Moment den Atem. Doch wusste er, dass er keine Zeit zu verlieren hatte. Nach einigen Fragen nach dem richtigen Weg überquerte er die Brücke über den Seitenarm des Storn, der wild und grau unter ihm vorbeieilte, dann folgte er den Hauptstraßen bis hinauf zur Festung über dem großen Fluss.
Ohne zu zögern trat er auf eine der Wachen zu – einen groß gewachsenen Krieger in den blaugelben Farben der Sturmfalken – warf einen Blick auf den Phönixring, und lächelte ...
~ ~ ~
Helmbrecht stapfte den Gang hinunter. Sein Kettenhemd klapperte gegen seine Beintaschen und jeder Schritt auf dem Steinboden donnerte wie ein nahendes Gewitter. Der Ordenskrieger der Reinigenden Flamme im Schlepptau bemühte sich eilig, ihm zu folgen. Die Festung war riesig und es dauerte seine Zeit, bis sie endlich vor der Tür standen, die schon seit Tagen das Ziel von Silars Reise gewesen war.
Helmbrecht warf noch einen letzten Blick auf den Krieger, der ihm gerade mal bis zur Schulter reichte. „Ich hoffe für Euch, dass es wirklich so dringend ist, wie Ihr behauptet. Der Graf hat wichtige Dinge zu tun.“ Silar nickte nur und der Soldat der Sturmfalken verschwand durch das hohe, mit Schnitzereien verzierte Portal. Kurz darauf öffnete sich einer der Türflügel und man gewährte Silar Einlass. Das Amstzimmer des Grafen war exklusiv, aber nicht von jener Dekadenz, die manchen Herrschern allzu gern zu Teil wird. Kaldor war, und blieb, ein Mann des Glaubens, und dies spiegelte sich in seinen Räumen ebenso wider, wie in seiner ganzen, ungeschnörkelten Art.
„Herr Kaldor, der Bote aus Finsterwalde“, begann Helmbrecht ohne Umschweife, doch Silar schob sich bereits an ihm vorbei und streifte die Kapuze nach hinten. Lange, schwarze Haare, Narben im Gesicht. Eine davon, ein schmaler Schnitt quer über den Nasenrücken von der linken zur rechten Wange, glänzte noch frisch und war wohl erst wenige Tage alt. Ein unverschämtes Grinsen und doch, dahinter, eine Besorgnis, die man in diesen Augen nicht gewohnt war. „Es ist schon eine Weile her, Kaldor“, begann Asunder und hob, beinahe entschuldigend die Schultern.
Helmbrecht starrte mit offenem Mund auf das jetzt Offensichtliche, hin und her gerissen, ob er die Ordensmeisterin einfach hinauswerfen oder angemessen begrüßen sollte, doch die Frau wandte sie zu ihm um und warf ihm einen unmissverständlichen Blick zu. „Niemand weiß, dass ich hier bin und das soll so bleiben. Erfährt es jemand, weiß ich, von wem er es weiß. Das wäre keine gute Idee.“ Dann wandte sie sich wieder an den Grafen und besann sich ihrerseits auf ihre Manieren und ihre Stellung. Sie trat einen Schritt vor, wartete. Kein schmerzhaftes Ziehen in der Hand, an der sie den Ring trug. Dann senkte sie respektvoll den Kopf. „Euer Gnaden, Graf Kaldor Kayanee von Nordgard, ich bitte um eine Unterredung unter vier Augen und bitte zugleich um Vergebung für diese Scharade. Doch mir blieb weder Zeit noch Wahl. Es geht um Leben … im schlimmsten Falle sogar um Eures.“