Unbalanced Pieces

  • „Was fehlt dir, Kind?“ Die Stimme des Priesters war sanft in der Halbdunkelheit des kleinen Heiligtums. Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten wie Messingmünzen in seinem von Asche schwarzen Gesicht.


    Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem kalten Steinboden vor ihm, sah zu ihm auf, während er sie umschritt, gemessen – eine Hand auf Schulter, Rücken, Schulter, Stirn. Seine Gewänder raschelten, fast eins mit dem schweren Rauch. Harz – Kiefer hauptsächlich – Eisen und Salz. Ein Stück Heimat.


    „Stärke?“ fragte sie.
    Die schmalen Finger, die auf ihrer Nasenwurzel geruht hatten, trafen ihre Wange und hinterließen brennende rote Striemen. „Dies ist der falsche Ort für Spott...“
    Sie verzog die Lippen. Nicht nur eine Narbe hatte sie so davongetragen.
    „Angst.“
    Er ging vor ihr in die Hocke, den Kopf auf die Seite geneigt. „Du wählst schon ihre Worte.“
    „Deswegen bin ich hier.“
    „Hier?“ Er beschrieb mit der Hand einen Kreis in der Luft, der sie beide und den Raum einschloss. „Oder hier?“ Ausgebreitete Arme
    umfassten, symbolisch, das Land.
    Sie bleckte die Zähne zu einem Lächeln. „Hier halt.“
    „Ich verstehe.“


    Mit einem leisen Seufzen ließ er sich zu ihr auf den Boden gleiten, griff zu einer Flasche grünen Inhalts, die hinter einem staubigen, zerbrochenen Regal gestanden hatte, und reichte sie ihr. Die Reinigung des Ortes von dem, was die Bruderschaft vom Schmutz ihrer Ideologie hier hinterlassen hatte, beschränkte sich auf spirituelles. Rituelles.


    Sie entkorkte die Flasche und nahm einen tiefen Schluck. Der scharfe Alkohol brannte in der Kehle, aber sie würde sich nicht die Blöße geben. Nicht vor ihm. Er bemerkte ihre Mühen und es ärgerte sie.


    „Es ist dieses Land. Es spielt mit uns. Versucht, dir die Sicht auf das Wesentliche zu nehmen“, nahm er das Gespräch wieder auf, „Es macht uns vor, dass IHRE Regeln hier nicht gelten. Götter, Avatare, Elemente. Männer und Frauen. Sie haben alle eines gemeinsam.“


    „Du kannst sie brechen.“


    Er hob eine schmale Augenbraue.
    „Sie sind nachtragend, wenn du gegen ihre Regeln verstößt. Und auch, wenn IHRE Augen jetzt gerade nicht auf dir ruhen, wirst du diesen Schleier hier irgendwann wieder verlassen. Vergiss das nicht.“


    Sie fixierte ihn mit grünen Augen. Ihr nächster Schluck fiel deutlich länger aus als der erste.
    Als sie die Flasche abstellte, hielt er ihr ein gefaltetes Stück Papier entgegen, eng beschrieben in den gestochenen Runen ihrer Heimat und seiner Handschrift.
    „Das ist das, was wir über ihn finden konnten. Nicht, dass es schwer gewesen wäre. Seine Anmaßungen haben in den letzten Jahren nicht nur dich getroffen. Am interessantesten jedoch ist dies hier . . .“


    Weiteres Papier folgte. Sie studierte es mit zusammengezogenen Brauen.
    „Chaos?“ Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. Nicht fröhlich. Nicht freundlich. „Wirklich?! Und du sagst, SIE hätten kein Auge auf uns?“ Die Papiere an sich gedrückt wie einen kleinen Schatz. „Ich brauche Beweise. Ich brauche Zeugen. Besorg sie mir, alte Krähe! Außerdem möchte ich, dass du Letahn mit dem Brief, den ich dir gegeben habe, nach Bärheim schickst - bezüglich der Straße und dieser . . . Holzangelegenheit für Nordgard. Nur Lethan.“


    Er betrachtete die halbleere Flasche, zuckte mit den Schultern und leere den Rest in einem Zug, während er sie musterte, als warte er auf etwas. „Was ist mit deiner 'Angst'?“


    Die kalte Freude in ihren Augen verflog, doch er beugte sich vor, legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Ich kümmere mich darum.“


    Everyone's a whore
    We just sell different parts of ourselves.





    [T.Shelby -PB]